Pflege.Handeln.Jetzt! - Was sich ändern muss!
Mit ihrer Analyse der Pflegesituation hat die AK Tirol einen Katalog an Handlungsempfehlungen vorgelegt, die eine Pflegekrise verhindern sollen.
Im Interview mit der Tiroler Arbeiterzeitung findet die Zentralbetriebsrats-vorsitzende der Tirol Kliniken, Birgit Seidl, klare Worte: Pflegekräfte fehlen an allen Ecken und Enden und die Situation für Patient:innen wird immer problematischer. Die Appelle an die Politik sind bisher jedoch ungehört geblieben, obwohl das System an der Kippe steht.
Im Mai 2022 fand auch in Innsbruck eine große Protestkundgebung statt unter dem Motto „Pflegenotstand wäre heilbar“. Geht es der Pflege seither besser?
Birgit Seidl: Leider nein. Auf der Ausbildungsebene hat sich sicher das ein oder andere getan, aber man kann nicht wirklich sagen, dass man die Ideen aufgegriffen hat, die unter anderem von der AK Tirol vorgelegt worden sind. Seit Mai 2022 ist eindeutig zu wenig passiert.
Warum passiert hier so wenig, obwohl es sich um ein so zentrales Thema handelt?
Seidl: Das liegt daran, dass es hier sehr stark ums Geld geht. Mag sein, dass das Land derzeit allgemein viele Baustellen zu bewältigen hat, aber man kann das Thema Pflegenotstand nicht einfach totschweigen, denn das betrifft uns alle. Vieles wäre besser lösbar, aber dazu müssen die handelnden Personen die Vorschläge, die es zur Lösung gibt, endlich ernst nehmen. Auf politischer Ebene gibt es hier viel zu wenig lösungsorientiertes und treffsicheres Handeln.
Wie dramatisch ist die Situation im Pflegebereich wirklich?
Seidl: Sehr dramatisch, aber nicht nur im Bereich der Krankenhäuser, sondern auch in den Heimen oder bei der Hauskrankenpflege. In Bezug auf die Klinik wird man sich deshalb bemühen müssen, die Organisation noch mehr zu straffen, aber eines müssen wir uns klar sein: So wie es aussieht, kann die Patientenversorgung in der derzeitigen Form nicht mehr lange stattfinden, da es einfach viel zu wenig Personal gibt. Und das nicht nur im Pflegebereich. Ein Krankenhaus braucht auch Mitarbeiter in anderen Bereichen, beispielsweise in der IT. Problematisch dabei ist, dass wir im Krankenhausbereich einen gesetzlichen Lohn haben, an den wir uns halten müssen, und bei dem Überzahlungen wie bei einem Kollektivlohn nicht möglich sind. Deshalb verlieren wir hier einfach aufgrund der schlechteren Bezahlung gut ausgebildetes Personal an die Privatwirtschaft oder den privaten Krankenhaussektor, da hier viel besser gezahlt wird. Deshalb ist es unumgänglich, an den Gehältern zu schrauben.
Was aber nicht passiert. Warum ist es so schwierig, die Politik davon zu überzeugen, dass sie endlich eingreifen muss?
Seidl: Man scheut sich davor, weil man Geld in die Hand nehmen muss. Unser gesetzlich verankertes Gehaltssystem ist aber teilweise zehn Jahre alt und der Gesundheitsbereich hat sich enorm weiterentwickelt. Das System gehört deshalb endlich evaluiert. So müssen zum Beispiel neu entstandene Berufe aufgenommen werden. Und wenn das nicht endlich passiert, werden wir die Gesundheitsversorgung nicht mehr so erleben, wie wir sie gewohnt sind.
Wie ist die Situation derzeit im Bereich der Ausbildung?
Seidl: Ebenfalls sehr schwierig.Man hat zwar bei der theoretischen Ausbildung nachgebessert, aber es gibt bei uns ein duales Ausbildungssystem. Das heißt, man braucht in der Praxis jemanden, der den Auszubildenden – egal bei welcher Art der Pflegeausbildung – anlernt, Fragen beantwortet. Ich habe auf politischer Ebene auch hingewiesen, dass nicht nur im Bereich der Auszubildenden, sondern auch der Ausbilder massiver Handlungsbedarf besteht.
Nur als Beispiel: Eine Pflegeperson, die im Intensivbereich jemanden einlernen will, bekommt dafür im neuen Gehaltsschema keine Entschädigung, das ist eine freiwillige Leistung. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. Dabei reden wir hier immer von der Arbeit am Patienten, die unter diesen Zuständen leidet. Deshalb verstehe ich die Untätigkeit der Politik nicht, das Gehaltssystem endlich an die realen Gegebenheiten anzupassen.
Sollte das trotz Ihrer Erwartungen doch noch in absehbarer Zeit passieren, ist bis dahin nicht schon ein Vakuum beim Pflegepersonal entstanden?
Seidl: Corona war hier der Katalysator, durch den die Probleme in der Pflege schonungslos offen gelegt wurden. Hinzukommt, dass die Generation der Babyboomer jetzt in Pension geht, das ist ein großer Teil der derzeit Beschäftigten. Wenn aufgrund der aktuellen Situation immer weniger Junge nachrücken, ist das bedenklich und ich denke, wir können das entstandene Vakuum kaum mehr füllen. Zudem definierte sich ein Krankenhaus bisher immer über Ärzte, das ist aber längst überholt. Die chirurgische Tagesklinik etwa, die mit 1. Oktober schließt, schließt nicht deshalb, weil wir keine Ärzte hätten, sondern weil es an Pflegekräften fehlt.
Was würden Sie sich wünschen?
Seidl: Dass der Landeshauptmann als Finanzreferent endlich eine monetäre Entscheidung trifft. Aber hier spüre ich leider wenig Bewegung. Derzeit drehen wir uns nur im Kreis und wenn ich den Satz "gleiches Geld für gleiche Arbeit" höre, dann kann ich nur sagen, der ist ungehört verhallt. Deshalb haben wir ein enormes Vakuum im Personalbereich mit wenig Licht am Ende des Tunnels. Als Betriebsrätin bzw. Betriebsrat müssen wir die Beschäftigten hinhalten und können nur auf Gespräche verweisen, die ergebnisoffen, sprich ergebnislos, verlaufen. Und um das klar zu sagen: Das reicht auch uns. Wenn auf jeder Station zwei bis drei Vollzeitkräfte fehlen, dann muss man doch Schritte setzen. Die Beschäftigten brennen aus und die Personalnot vergrößert sich weiter. Davor müssen wir die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aber schützen und deshalb lautet mein dringender Appell an die Politik: Es braucht Nägel mit Köpfen. Aber derzeit sehe ich da überhaupt keine Bewegung.
Vor über einem Jahr machten hunderte Beschäftigte aus dem Pflegebereich ihrem Ärger Luft und versammelten sich nach einem Marsch durch Innsbruck vor dem Landhausplatz. Dort haben sie ihre Forderungen an die Politik deponiert: Mehr Personal, angemessene Bezahlung, mehr Erholungszeiten, mehr Wertschätzung.
Geschehen ist bisher nichts. Der Pflegebereich ist mittlerweile ein Intensivpatient in bedenklichem Zustand, und die Politik ignoriert eisern die Zeichen der Zeit.
Dabei geht es um einen besonders sensiblen Bereich: um Menschen, die Pflege benötigen, und um Menschen, die darin ihren Beruf und ihre Berufung sehen. Das macht den politischen Stillstand umso unverständlicher und nicht zuletzt auch gefährlich für alle. Fakt ist, nach Jahren mit leeren Versprechungen ist die Frustration bei den Betroffenen verständlicherweise groß.
Die AK Tirol hat gemeinsam mit Pflegenden und Expert:innen ein 40-seitiges Konzept erarbeitet (s.u., Anm.) in dem erörtert wird, welche Maßnahmen die Situation verbessern könnten – jetzt ist die Politik am Zug und muss endlich den Beschäftigten helfen und das Pflegesystem retten. Egal, was es kostet, denn ansonsten werden die Tirolerinnen und Tiroler leiden, und das im wahrsten Sinne des Wortes!
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